Wislafahrt Krakow - Warszawa (Gelhaar 1972)

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Juli 1970. Rundfunk und Fernsehen sprechen von Überschwemmungen in Südpolen, die schwersten seit 40 Jahren; von abgeschnittenen Dörfern, Wasser in den Straßen Krakóws ...

Trotzdem saßen wir am nächsten Tag im Zug nach Kraków, um an die Wisła zu fahren.

Das vorausschickend zur Ausgangssituation und wohl auch zum Besonderen dieser Fahrt. Ein Strom bei 5 m Hochwasser bringt Besonderheiten, Vorteile (Strömungsgeschwindigkeit) und Nachteile (Zeltplätze). Der Berichterstatter hat es deshalb schwer, solche Abnormitäten nicht als typisch in die Fahrtenschilderung einfließen zu lassen.

Die Strecke Kraków - Warszawa ist 435 km lang, also annähernd so lang wie unsere Elbe. In Kraków ist die Wisła breit wie die Dresdner Elbe, in Warszawa breit wie die Elbe bei Wittenberge. Auch die Strömungsgeschwindigkeit entspricht der der Elbe. Damit sind aber auch die Gemeinsamkeiten erschöpft.

Die Wisła ist bis Warszawa ein Fluss, der es bisher immer verstanden hat, sich den Regulierungsbestrebungen des Menschen zu entziehen. Es ist ein "wilder" Strom: Sand, Sand, Sand. In Form von riesigen Sandbänken, Sandinseln, Sandufern. Manchmal kilometerbreit ein Inselgewirr von Sand. Und dazu sauberes Wasser. Also eine Badetour? Ja, auch wenn wir sie erst im letzten Drittel der Strecke auskosten konnten. Denn in den ersten beiden gabs trübes Hochwasser und überfluteten Sand.

Die Fahrtschilderung nun chronologisch im Telegrammstil. Angaben der Flusskilometer an beiden Ufern, anfangs präzise (sogar 100-m-Schilder), später lückenhaft (oder schwer zu sehen).

  • km 76 Kraków. Übernachtung im Dom Turysty (Bettpreis bis 80 Zł, im 8-Bettzimmer 32 Zł). Billigere Übernachtungen kaum zu haben. Zünftig. Rucksäcke dominieren. Auf Aufzählung der weltbekannten Sehenswürdigkeiten wird verzichtet. Empfohlene Besonderheit: Kościuszko-Hügel. (Straßenbahn bis Endstelle Salwator, dann 15 Minuten ansteigende Straße). Kapelle mit Herz Kościuszkos. Schöner Blick auf Stadt, Fluss und Umgebung.
    Günstiger Aufbau auf Sandbank Innenkurve gegenüber Wawel. Auch Zelten müsste hier möglich sein.
  • km 80 Kraftwerk mit Schleuse. Kosten pro Boot 9 Zł. Aber: 1 Boot allein 30 Zł, zwei Boote auch 30 Zł, drei Boote dann dreimal neun gleich 27 Zł!
  • km 88 Nowa Huta. Berühmtes Metallurgie-Zentrum. Mit Schneeschiebern wird Bootshaus von Schlamm gesäubert.
  • km 92 Kraftwerk und Schleuse. Wegen Hochwasserschäden gesperrt. Finden gegenüber Schleusenkanal halbwegs trockene Sandbank. Vorgestern stand hier Wasser noch 2 m hoch. Umtragen rechts durch Kraftwerk, ca. 200 m weit. Nun freie Fahrt bis Warschau.
  • km 102 Niepolomice. Über die Bahngleise ein "spożywcze". Wegen Hitze verkneifen wir uns Besichtigung des Renaissanceschlosses. Soll sich lohnen.
  • km 124 Links schönes hohes Ufer. Rechts flach. Am km 130 ein 50 m breiter Dammriss. Das Land dahinter eine Wasserwüste. Fallschirmjäger, Wasserschutzpolizei, Bauern arbeiten fieberhaft. Ertrunkenes Vieh. Alle Brunnen abgesoffen. Zeltplatz auf verwüstetem, sandbedecktem Getreidefeld.
  • km 135 Mündung Raba. Ab und zu ein Dorf, eine Kahnfähre.
  • km 160 Rechts Mündung Dunajec, links auf hohem Ufer Opatowiec, kleiner Ort, aber fabelhaftes Restaurant mit moderner Ausstattung. Außerdem sehenswert: Kirche mit freistehendem Glockenturm und winziger Eingangspforte.
    Was nun folgt, ist ein Drama. 20 Stunden Regen. Von nachmittags 4.00 bis mittags 12.00 Uhr. Total verschlammte Ufer. Auf Hügelchen, 2 m breit, 15 m lang, 1 m über einer Teichlandschaft, quetschen wir 4 Zelte drauf. Auf dem Schlamm eine Rutschpartie. Nachmittags keine Lust zum Weiterfahren. Großes Trocknen. Abends steigt das Wasser. Stöckchen-Pegel: 20 cm/Stunde. Im Dorf hinterm Damm ist Hochwasseralarm. Eine Flutwelle solls nicht geben. Ziehen die Boote hoch, packen alles so zusammen, dass es mit ein paar Handgriffen evakuiert werden kann. Teilen Wachdienst ein und schlafen unruhig. Früh um drei sind wir eine Insel. Bauen ab. Höchste Zeit.
  • km 193 Szcucin. Kleines Städtchen. Schöne Kirche.
  • km 203,5 Links auf Sandbank schöner Zeltplatz.
  • km 227 Mündung Wisłoka. Bringt viel Schmutzwasser, Äste, Strauchwerk.
  • km 243 Baranów. Prächtiges Renaissanceschloss. Touristenmagnet. Restaurants, Einkaufsmöglichkeit.
    Rechtsufrig riesiges Schwefelwerk.
  • km 255 Auf hohem Ufer Tarnobrzeg. Moderne Häuser und Altstadt.
  • km 269 Sandomierz. Eine der ältesten Städte Polens. Terrassenförmig angelegt. Malerischer Anblick vom Wasser. Schwer umkämpfter Flussübergang 1944. Mehrstündiger Stadtrundgang unbedingt erforderlich. Sehenswert: Opatowska-Tor (gotischer Aussichtsturm), Rathaus mit Renaissanceattika, Kathedrale und romanisches Portal der St. Jakobs-Kirche.
    Hatten 80 km in den Armen. An Zelten war nicht zu denken. Uferstraße und Wasser steht plus minus null. Kommen im Bootshaus unter. Steht auf 2 m hohen Pfählen. Vor Tagen stand Wisła halben Meter hoch im Raum. Früh wieder abgeschnitten. Wasser gluckert einen Meter unter den Luftmatratzen. Fahren per Boot in die Stadt.
  • km 279 Mündung San.
  • km 287 Zawichost. Kleinstadt. Malerische alte Holzhäuser am Ufer. Ab hier beginnt 80 km langes Wisła-Durchbruchstal.
    Kreidefelsen, Kalksteinbrüche, Dörfer auf hohen Ufern.
  • km 296 Rechtsufrig Senke im Kreidefelsen. Sand und Kiefern, Pilze gibts und schöne Blicke vom Steilufer. Hinterland wie Mecklenburg, malerischer Zeltplatz.
  • km 298 Annopol. Riesige ansteigende Brücke.
  • km 305 Słupia Nadbrzeżna. Wochenendhäuschen. Restaurant am Ufer. Fahren linken Arm. Links hohes Ufer mit Dörfern, rechts 12 km langes Inselgewirr mit guten Zeltplätzen. Malerische Fahrt. Delta-Wirkung.
  • km 319 Jósefów, Piotrawin, Solec - Kleinstädte, Dörfer. Winzige Orte mit gotischen Kirchen.
  • km 355 Janowiec. Renaissanceschloss. Mehrfach zerstört. Teils wieder aufgebaut.
    Wisła beschreibt große Kurve - schönster Anblick der ganzen Fahrt. Links auf hohem Ufer die malerische Janowiecer Ruine, beidseitig hohe Kreidefelsen, rechts im Mittelgrund die Türme von Kazimierz und im Hintergrund sich verlierend hohe Felsenufer. Wenn die Weichsel nichts anderes geboten hätte - wegen dieses Anblickes hätte sich die Fahrt gelohnt.
  • km 359 Kazimierz Dolny. Eine Perle, vielleicht die schönste im Kranz der alten polnischen Städte. Ob es die Burgruinen sind oder die Patrizierhäuser mit ihren Renaissance-Attiken (in jedem polnischen Bildband zu finden!) oder der überdachte hölzerne Brunnen oder die Maler an allen Ecken und Enden oder...
    Kazimierz ist eine Reise wert.
  • km 371 Puławy. Links vor Brücke Bootshaus. (4-Bettzimmer 100 Zł). Zeltplatz. Stadt in guter Mischung von alt und modern. Sehenswerter Park im romantischen Stil.
    Die nun folgenden 140 km bis Warschau empfanden wir als den schönsten Teil der Fahrt. Warum? Sand, Sand, Sand. Einsame Strände und Bänke. Viel Wärme. Waren mehr im als auf dem Wasser. Unter Schonung der Badetextilien. Wir hättens wochenlang ausgehalten.
  • km 392 Mündung Wieprz. Bootshaus, Restaurant.
    Fluss biegt scharf um 90° nach Westen. Sehen den ersten Spüler. Baggert mit Eimerketten Untiefen aus und drückt Sand-Wasser-Gemisch durch auf Booten liegende lange Rohrleitung wieder hinter sich in den Fluss. Anders ist offensichtlich dem wilden Sandstrom nicht beizukommen.
    Zeltplätze in Hülle und Fülle.
  • km 445 Rechts unser schönster Zeltplatz. Insel mit Bäumen auf Sandteppich.
  • km 463 Pilica - Mündung
  • km 470 Gewirr von Sandinseln. Stromrinne kaum auszumachen.
  • km 476 Góra Kalwaria. Kleinstadt. Zugverbindung nach Warszawa.
  • km 498 Letzter Zeltplatz. Wollen nicht Sonntagabend in Warszawa ankommen. Kulturpalastturm ist schon zu sehen.
    Die letzten 10 km Wisla. 3 große runde Türme mitten im Wasser. 20 m hoch, 15 m Durchmesser, sieht ulkig aus, Was ist das?
    Ein Motorboot stoppt uns. Wasserschutzdienst. Wissen schon, was sie wollen. Nichtschwimmer - Wassersportler haben in Polen Schwimmwestenpflicht.
    Rechts viele schöne Bootshäuser. Aber zu weit entfernt vom Bahnhof.
  • km 510 Links ein Stichkanal. Am Beginn ein Bootshaus. Für "jeden noc" dürfen wir zelten.
    Warszawa ist ein Erlebnis. Auch in anderthalb Tag. Näheres über Sehenswertes siehe einschlägige Literatur.

Noch ein Wort zum Abtransport. Haben uns vors Bootshaus auf die Straße gestellt, ersten besten Transporter angehalten, und 10 Minuten später standen die Boote auf der Zollrampe. 15.00 Uhr ist Zollannahmeschluss. Und wenn wir nicht ein kleines braungebranntes Mädchen mit blonden Zöpfen mitgehabt hätten, hätte der Zöllner wohl kaum viertel vier nochmal sein Büro aufgemacht.

Quintessenz: Eine lohnende Fahrt. Merkwürdigerweise in der VR Polen nicht so beliebt. Wir trafen ein einziges Boot. (Oder lags am Hochwasser?) In vierzehn Tagen zu schaffen. Besser man hat drei Wochen.

Wenn man meine Familie (6 Personen von 4 - 40) befragen würde: "Möchten Sie nochmal die Weichsel fahren?", käme es wie aus einem Mund: "Sofort."


Weitere Artikel

  • siehe auch die Artikelsammlung Weichsel!


Quelle

Dieser Artikel stammt von Günter Gelhaar, Markkleeberg, und erschien in der Zeitschrift "Der Kanusport. Mitteilungsblatt des Deutschen Kanu-Sport-Verbandes der Deutschen Demokratischen Republik", 19. Jahrgang, 1/1972, S. 8-9.

Der Text wurde aus der Zeitschrift unverändert übertragen, lediglich die neue deutsche Rechtschreibung wurde berücksichtigt und die Schreibweise der Ortsnamen dem polnischen Schriftbild angeglichen. Eine Aktualisierung der Fakten auf heutigen Stand (Bootshäuser, Kiesbänke, Zugverbindungen) wurde nicht durchgeführt. Neue Fahrtberichte der letzten Jahre werden gerne entgegengenommen!

Vielen Dank an Günter Gelhaar für seine Genehmigung zur Veröffentlichung im Faltbootwiki.


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