Eine verhinderte Ost-West-Passage (Half 1975)

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Inhaltsverzeichnis

Eine verhinderte Ost-West-Passage


Es berichtet W. Half, Varel



Unsere Reiseroute


Nimmt man den Flussführer von 1954, 15. Auflage, zur Hand und schlägt Seite 222 auf, ist dem Gebiet Ostfrieslands eine halbe Seite gewidmet. In der 20. Auflage von 1974 erscheinen schon neun Seiten mit den Gewässern in und um Ostfriesland. Tatsächlich ist es so, dass bei genauem Betrachten der Geographie Ostfrieslands zahlreiche Gewässer weitere Seiten im Fluss- und Zeltwanderbuch füllen würden. Fährt man an die See und gelangt in eine Wetterphase, die draußen nichts an Kanusport ermöglicht, hat man im Binnenland viele Möglichkeiten, auf Wanderwegen Sport zu treiben. Zwar schäumt nirgends ein Wildwasser oder rauschen Wälder neben dem Zelt. Weite Horizonte, Moore und Marschlandschaften vermitteln dem Betrachter Ruhe und Entspannung. Interessant werden für den Kanuwanderer mit Boot und Zelt die Querverbindungen, um weite Strecken ohne Landtransport zurücklegen zu können. Bedingt durch das flache Land sind Übertragestellen mit wenig Höhenunterschied zu überwinden. Die Gewässer sind weitgehend sauber und gestatten bis auf wenige Ausnahmen das Baden. Außerhalb von Campingplätzen kann man fast überall zelten und stößt auf wenig Schwierigkeiten. Bei dem Thema über Querverbindungen in dem Lande der Ostfriesen hörte man im Wilhelmshavener Kanu-Klub oftmals das Gespräch über die Fehnkanäle und das Fentjer Tief, die kürzeste Verbindung auf dem Wege nach Holland. In grauer Vorzeit musste der Weg wohl einmal bekannt geworden sein, denn niemand im Verein hatte tatsächlich schon diesen Kurs benutzt. Die Erfassung der Gewässer zur 20. Auflage des Fluss- und Zeltwanderbuchs lief auf vollen Touren. Nun wollten wir Gewissheit über diesen Wanderweg haben. Wir, das waren Bernd, Ingo sowie meine Person, hatten drei Tage Zeit, um diese Route auszutesten. In einem äußerst knappen Zeitplan sollte unser Weg über den Ems-Jade-Kanal bis Emden, von dort über das Fentjer Tief und über die Fehn-Kanäle der Moorkolonien wieder zurück zum Ems-Jade-Kanal führen. 150 km stehendes Gewässer lagen vor uns.

Im leichten Nieselregen starteten wir an der Mariensieler Schleuse in Wilhelmshaven. Bei km 25 lag die erste Schleuse vor uns. Schon nach weiteren 2 km folgte die zweite Schleuse. Aber zwischen diesen lag das erste Gasthaus am Kanal. Wer kann es uns da übelnehmen, hier das Boot zu verlassen. Da aber dieses Haus uns vom Regen durchnässten und konditionell geschwächten Sportlern nur verschlossene Türen bot, wanderten wir einige Kilometer nach Wiesedermeer zum Gasthaus "Roter Löwe". Eine nette Ostfriesin bediente. Der ostfriesische Landwein schmeckte, und in lockerer Stimmung entlockten wir einem alten Klavier völlig neue Harmonien. Viel zu spät wurde diese gastliche Stätte verlassen. Vor uns lag ein beachtlicher Fußweg sowie 22 km Kanal mit zwei Schleusen. Wieder im Boot sitzend umgab uns ein völliges Blau von Horizont zu Horizont. Keine Regenwolke trübte mehr den Himmel. Spiegelglatt lag der Kanal vor uns. Das Etappenziel, Aurich, musste leider gestrichen werden. In Sichtweite der Stadt schlugen wir in der Dämmerung unser Zelt auf. Ein solcher Ausreißer durfte sich auf keinen Fall in unserem Terminplan wiederholen.

Der 2. Tag brachte während des Einkaufens in Aurich mit anschließender Einkehr wieder Zeit und Konditionseinbußen. Heute sollte die größte Etappe nach Timmel in das Herz dieses gelobten Landes führen. Der weite Blick ab Aurich mit der Silhouette der Stadt Emden als Fata Morgana ließen den Kanal doppelt lang werden. 12,6 km vor Emden wiesen It. DKV-Buch ein gekreuztes Essbesteck auf "Gut Messer und Gabel". Voller Hoffnung wurde angelegt. Vor dem Haus stand eine hübsche Ostfriesin im Dirndl-Kleid. Wer sagt da, die Ostfriesen seien weltfremd? Timmel, unser Tagesziel, begann schon wieder zu verschwimmen. Mit äußerstem Bedauern mussten wir vernehmen, dass das Lokal in Mittelhaus schon 1948 geschlossen wurde. Trotzdem lud uns die nette Deern in ihr Haus. Warum aber diese Einladung abgelehnt wurde, kann heute keiner mehr sagen. Nach zwei Stunden Fahrzeit gelangten wir in Emden an die Verbindungsschleuse zum Fentjer Tief. Der Schleusenwärter schleuste uns sofort ohne Bezahlung. Wo gibt es gleiches? Auch gab es hier das helle Volksrauschmittel in 1/2-Liter-Flaschen. Der östlichste Punkt unserer Passage war erreicht, aber nach unserem Zeitplan hätte diese Schleuse längst hinter uns liegen müssen.

Unsere Reiseroute Mit aller Kraft ging es auf dem Fentjer Tief Timmel entgegen. Ohne uns Zeit für einen Blick auf die Karte zu gönnen, betrachteten wir immer das breiteste Gewässer als das Fentjer Tief. Ab Petkum wurde es breit wie der Rhein bei Düsseldorf. Gewaltige Brücken spannten sich von Ufer zu Ufer. Voller Skepsis befragten wir einen Angler, warum und wie weit das Fentjer Tief diese Ausmaße hätte. Laut lachend gab er uns eine niederschmetternde Antwort. Wir befanden uns seit geraumer Zeit auf dem Dortmund-Ems-Kanal. Alles Schöne ging uns aus den Augen. Durch den Zeitverlust musste schnell eine Entscheidung getroffen werden. Wir fuhren durch bis Oldersum. Hier mündet das Rorichumer Tief, welches ebenfalls von Timmel kommt, in die Ems. In der Dämmerung wurde gestartet. Timmel musste auf jeden Fall erreicht werden. Nebeneinander jagten die Boote über das Rorichumer Tief. Fischreiher flogen vor uns auf. Enten rauschten in das Schilf. Querab leuchtete der Mond durch die dunstige Niederung. Käuzchen glitten im Gegenlicht lautlos an uns vorüber. Rechts außen fuhr Ingo im Rennkajak voll Gepäck und hatte es leicht, das Tempo zu bestimmen. In der Mitte kämpfte Bernd mit äußerster Schlagzahl des Paddels, um in seinem Abfahrtsboot das Tempo zu halten. Links außen maß ich mit einem Seitenblick laufend die Position, um keinen Zentimeter zu verschenken. Keiner sprach ein Wort. Es herrschte absolute Regattastimmung. Um 23.00 Uhr stand unser Zelt endlich auf dem Campingplatz des Wassersportvereins Timmel.

Der 3. Tag musste die Entscheidung bringen. Ist die Ost-West-Passage möglich? Sehr früh wurde gestartet. Bei schönstem Sommerwetter paddelten wir in den Spetzerfehn-Kanal hinein, der uns in die Fehnkanäle bringen sollte. Wenige Kilometer waren zurückgelegt, als dieser Kanal mehr das Aussehen eines Grabens annahm. Der Graben endete hier hinter einer Kurve vor den Spurenelementen einer Schleuse. Dem Zustand entsprechend musste dieses Bauwerk z. Z. der ostfriesischen Häuptlinge geschaffen worden sein. Unkräuter und Schilf umgaben diese historische Stätte. Unsere Hoffnung zur Weiterfahrt sank auf ein Minimum, als wir hinter der Schleuse den Kanal völlig verwachsen vorfanden. Nicht verfallen war aber das Wirtshaus "Zur Schleuse". Mit allgemeinem Schweigen suchten wir Trost bei einer Flasche. Die Anwohner hatten wohl nie Kajaks gesehen. Mit staunenden Kinderaugen befühlten und begutachteten sie unsere Boote. An eine Weiterfahrt per Boot in Richtung Westgroßefehn war nicht zu denken. Ich klemmte mir unser Kartenmaterial unter den Arm, setzte eine dienstliche Miene auf und begab mich zum nächsten Hof. Dem erstaunten Herrn erklärte ich, dass wir im Auftrage des DKV die Gewässer befahren. Die Wirkung war umwerfend. Während ich mit dem netten Landwirt beim landesüblichen klaren Getränk saß, wurden die Boote schon auf einen Anhänger verladen. Ein Traktor brachte uns mit frohem Mut nach Westgroßefehn. Wie Erntehelfer saßen wir in Sportkleidung auf dem Fahrzeug. Vergessen war der Ärger der verfallenen Schleuse in Ulbargen. Ähnlich hatte sich wohl auch Columbus gefühlt, als er nach langer Fahrt Land entdeckte. Westgroßefehn bot uns aber nur eine kümmerliche Rinne, die einmal Kanal war. In dem dortigen Wirtshaus "Zur Schleuse" überzeugten wir unseren Fahrer, dass er uns bis Mitte Großefehn fahren müsse. Dort war der Kanal wieder befahrbar. Endlich ging es in die Boote, völlig überzeugt, auf eigenem Kiel Wilhelmshaven zu erreichen. Am Ufer begleitete uns die Dorfjugend. Laut DKV-Buch, 19. Auflage, begann nun die Fahrt auf den malerischen Fehnkolonien. Rechts jagten Autos in dichter Folge über eine Asphaltstraße. Links erstreckten sich kleine Gehöfte bis zum Horizont.

Auffallend waren die gleichgroßen und grünen Scheunentore, die sich bis zum Fluchtpunkt der Uferlinie erstreckten. Grün wurde überhaupt die beherrschende Farbe. Wir schaufelten uns inzwischen durch grüne Brühe. Neben, vor und hinter uns schwammen Gegenstände aus der Kultivierungsphase Ostfrieslands. Flaschen, Spraydosen, Plastiktüten, Kinderwagen - ohne Inhalt -, Matratzen usw. dominierten am Ufer und auf dem Wasser. In Ostgroßefehn war unsere Hochstimmung völlig verbraucht. Vor einer vergammelten Schleuse fand die Fahrt ein Ende. Demoralisiert standen wir bloßen Fußes mit weichen Knien auf einer ebenso weichen Teerfläche. Mit der malerischen Fehnkolonie war nichts mehr. Einziger Lichtblick war ein gegenüberliegendes Wirtshaus "Zur Schleuse", welches wir zur seelischen Aufrüstung und Sonnenschutz aufsuchten. Per Telefon wurde uns ein Herr empfohlen, der uns mit den Booten an den Nordgeorgfehn-Kanal bringen wollte. Nach Besichtigung seiner Fahrgäste und der Fracht verlangte der nette Mensch DM 30,- für 6 km. Mit wüsten Beschimpfungen schickten wir ihn hinaus. In Vorahnung seiner Monopolstellung erschien der unverschämte Ostfriese nach 30 Minuten wieder mit den Worten "Ihr seid ja immer noch hier!" Der Not gehorchend handelten wir den Preis auf DM 20,- herunter. Schnell waren die Boote auf dem Anhänger verzurrt; in wenigen Minuten ging es zum Nordgeorgfehn-Kanal, der immer gut zu befahren ist. Ohne Gasthauspausen und zeitraubenden Zwischenfällen erreichten wir am Abend des 3. Tages den vereinseigenen Zeltplatz in Hohe-Esche am Ems-Jade-Kanal. Hier fand die nicht gelungene Ost-West-Passage ihr Ende.


Das Fazit dieser 3 Tage:

Wenn auch die Verbindung über die Kanäle nicht möglich war, so haben zahlreiche Gewässer unterwegs die Möglichkeiten der Kanuwanderwege in Ostfriesland unterstrichen. Die Abweichungen gegenüber dem Fluss- und Zeltwanderbuch waren erheblich. Zum Teil waren Gewässer überhaupt nicht oder falsch beschrieben. Die ehemals zur Torfschifffahrt um 1900 geschaffenen Kanäle sind für den Kanusport z. Z. nicht zu verwenden. Man befasst sich neuerdings mit Plänen, die Wasserläufe zur Erhaltung des Ortsbildes wieder herzurichten. Da aber z. Z. die Abwässer in den Kanal gehen, muss ein Abwässerkanal geschaffen werden. Bei der momentanen Finanzlage des Landes wird bis zur Verwirklichung einige Zeit verstreichen. Trotzdem, Ostfriesland ist eine Kanureise wert. Empfohlen seien hier die Wanderwege, die P. Welzel und R. Hammer in der 20. Auflage des Fluss- und Zeltwanderbuchs erfasst und beschrieben haben. Jedem Kanuwanderer ist aber nach Zeit und Stimmung die Möglichkeit gegeben, diese Wege zu verlassen und auf weiteren Gewässern neue Ziele anzusteuern.


Quelle

Dieser Fahrtbericht Wolfgang Halfs erschien im "Kanu-Sport", 44. Jahrg., Heft 16/1975, S. 339 f. Der Text wurde - ohne die Fotos - aus der Zeitschrift übertragen, lediglich die neue deutsche Rechtschreibung wurde berücksichtigt. Eine Aktualisierung der Fakten auf heutigen Stand wurde nicht durchgeführt

Vielen Dank an Wolfgang Half, Varel, für seine freundliche Genehmigung zur Wiederveröffentlichung im Faltbootwiki.


Literatur

  • Dingenotto, Christian: Revierführer Ostfriesland. Erschienen 2018, erhältlich beim Landeskanuverband Niedersachsen, Rosenbuschweg 9 B, 30453 Hannover, gegen einen mit 1,45 Euro frankierten Rückumschlag, oder herunterzuladen beim Landeskanuverband Niedersachsen.


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