Die Obra wurde zum Erlebnis besonderer Art (Günther 1986)

Aus Faltbootwiki

Wechseln zu: Navigation, Suche

Inhaltsverzeichnis

Die Obra wurde zum Erlebnis besonderer Art


Den vorliegenden Artikel verfasste Alexander Günther, Bernau, im Jahre 1986. Er ist in der Zeitschrift "Rudersport der DDR" erschienen.


Ziel der diesjährigen gemeinsamen Urlaubsfahrt von 18 Wanderruderern unseres Landes (vorwiegend Meißner) und sieben polnischen Sportfreunden aus Warschau war die Obra. Als gebürtiger Meißner und auch ehemaliger Meißner Ruderer war es mir vergönnt, nebst meiner Frau an dieser Fahrt als Lieferer von Berliner Bier, Amateurberichterstatter und gelegentlicher Dolmetscher (Englisch) teilzunehmen.

Die Obra ist ein kleiner linker Nebenfluss der Warta, etwa 80 km östlich von Frankfurt (Oder) oder parallel zur Oder. In einem Reiseführer von 1960 als Wasserwanderweg sehr empfohlen, hatte sie uns herausgefordert. Neun Tage einschließlich Hin- und Rückfahrt standen uns für ca. 170 km zur Verfügung. Bei sieben Fahrttagen und einem Ruhetag sollten 25 km pro Tag nicht zuviel sein.


Nacht auf der Insel

Nach Passieren der Grenze in Forst trafen wir planmäßig mit unseren polnischen Freunden in Kopanica zusammen, um im Dorf Mała Wieś mit drei polnischen und sieben DDR-Booten einzusetzen. Hier trifft der Obra-Kanal, aus östlicher Richtung kommend, auf die eigentliche Obra. Der Kanal ist hoffnungslos verkrautet und die Obra stromauf nur ein Rinnsal, aber stromab eröffnet sich nach wenigen Kilometern eine schöne, rund 50 km lange Seenkette vom Kopanickie- bis zum Wielkie-See, mit dem 6 km langen Zbąszyńskie-See als größten. Am ersten Tag kamen wir noch bis zum Chobienickie-See (11 km), auf dessen großer Insel wir zelteten.

24 Stunden später ging es bei bestem Sonnenwetter von einem See auf den anderen. Bis zum Abend schafften wir trotz ausgedehnten Aufenthalts im Erholungszentrum Zbąszyń und mehrerer Badepausen mitten auf den Seen fast 40 km. Dabei mussten wir noch zwei Hindernisse überwinden: ein Wehr war zu umtragen und eine steinige Stromschnelle unter einer Brücke zu durchtreideln, beides kurz hinter dem Zbąszyńskie-See. Die Ausfahrt aus diesem See befindet sich übrigens am Ostufer. Unsere Zelte errichteten wir am Lutol-See.

Am dritten Tag ging es über Trzciel (2400 Einwohner) ohne Schwierigkeiten bis zum Ende des Wielkie-Sees (ca. 11 km). Dort hatten wir Zeit für einen größeren Spaziergang zu umliegenden Seen, und unsere polnischen Freunde gingen fischen. Als wir geruhsam zum Tagesausklang am Lagerfeuer beisammen saßen, wurde die Ausbeute von vier Aalen und fünf Hechten gebraten und verspeist, für 25 Mann natürlich nicht viel. Der vierte Tag begann mit dem Durchtreideln eines Wehres, wobei wir aussteigen und die größten Gepäckstücke entladen mussten. Nur die polnischen Freunde wagten die Durchfahrt ohne auszusteigen, was wegen der stabileren und kürzeren Bauart ihrer Boote auch gut gelang. Allerdings benötigten sie die Hilfe von drei unserer Jungs, die im Wasser standen und die Boote durch die Wehröffnung leiteten. Die Obra hat ab hier Flusscharakter und vorerst gab es keine weiteren Schwierigkeiten. Nach dem Mittag beim Dorf Policko erreichten wir nach 34 km fast noch die Stadt Międzyrzecz. Wir hatten übrigens ausreichend Proviant mit, um uns an allen Tagen in Essgemeinschaften vorzüglich zu verpflegen. Am fünften Tag hat wir Zeit, Międzyrzecz und da vorwiegend die Geschäfte zu besuchen.


Mit Axt und Säge

15.00 Uhr legten wir ab und dachten, möglichst noch nahe an den 27 km entfernten Stausee heranzukommen. Aber weit gefehlt! 6 km hinter Międzyrzecz begrüßte uns eine Barriere aus schier unüberwindbaren, bis zu meterdicken umgestürzten Bäumen! Trotz Arbeit mit Axt und Säge blieb uns nur das Ausladen und Ziehen bzw. Heben der Boote über die Stämme. Dabei waren wir stellenweise bis zum Hals im Wasser. Dieses Hindernis entpuppte sich als Beginn einer endlosen Kaskade: im Mittel etwa alle 50 m lag ein Baum mit mehr oder weniger Geäst quer im Wasser. Nur gut, dass Wasser und Luft relativ warm waren und uns lediglich Stechfliegen belästigten.

Man stelle sich die früheren Forschungsreisenden z.B. im Amazonasgebiet in dünnen, wackligen Booten inmitten von Piranhas, Krokodilen und Moskitos bei noch feuchtheißerem Klima vor! Teilweise waren die Hindernisse mit Geschick zu umfahren, manchmal knapp zu unterqueren. Das Spiel war variantenreich. Nach vier Stunden Schinderei für höchstens 10 km (19 insgesamt am Tag) erreichten wird kurz vor Dunkelheit ein Wehr, wo wir ausluden, die Boote leer durchtreidelten oder durchfuhren, und wo wir zelten konnten.

Auch am nächsten Tag setzten sich die Hindernisse noch 8 km fort, wofür wir ohne Pause etwa vier Stunden benötigten. Dann erst wurde die Obra breiter und gut beruderbar. Nach weiteren 7 km fanden wir auf dem erreichten Stausee einen ausgezeichneten Biwakplatz mit Steg, Tischen und Bänken. Alle waren geschafft - der Ruhetag redlich verdient.

Der Stausee war wirklich herrlich. Es wurde ausgiebig gebadet, gefischt, Wasser von einer nahen Quelle und Brot aus einem Dorf geholt. Ein Nebensee mit glasklarem Wasser (Chycina-See) hinter einem . Schilflabyrinth wurde auch am Ruhetag von ein paar Unentwegten per Boot erkundet und Lothar Wundratsch und ich fanden sogar die Zufahrt in den sich anschließenden Długie-See.


Mit dem Heck voran

Am vorletzten Tag waren wir ganz zeitig auf dem Wasser: wir wollten unbedingt die 33 km entfernte Stadt Skwierzyna und die Warta erreichen. Nach dem Umtragen der Staumauer erreichten wir nach nur wenigen, umfahrbaren Ästen das Dorf Blezdew, rund 6 km vom Zeltplatz. Eine Stromschnelle unter der Dorfbrücke durchfuhren wir mit dem Heck voran. Dann ging es wieder los mit einer Fülle von umgestürzten Bäumen. Die ganze Konzentration und der Einsatz aller wurden gefordert. Wir wurden eigentlich nie trocken, da wir fast ständig ins Wasser mussten. Sachen anziehen lohnte überhaupt nicht. Nur der guten Zusammenarbeit und der gegenseitigen psychologischen Stimulierung war es zu verdanken, dass alles mehr oder weniger heil blieb.

Nach sechs Stunden Knochenarbeit waren wir nur 13 km vorwärtsgekommen und hatten das Dorf Stary Dworek erreicht. Bis zur Warta waren es aber noch 14 km auf dem "Wasser" und die einzusehende Strecke war ziemlich hölzern. 5 km waren es auf der Straße.

Laut Wasserführer sollte der schwierigste Abschnitt jetzt erst kommen, schnellere Strömung, Wehr, Pflöcke, Steine. Kurz vor Skwierzyna wurde der Abbruch der Fahrt empfohlen. In Anbetracht der hohen Belastung und des Risikos für Boot und Mannschaft - außerdem fiel der Wasserstand - wurde daher einstimmig beschlossen, die Fahrt hier abzubrechen. Diese Entscheidung brachte uns noch einen gemütlichen deutsch-polnischen Abschlussabend am Lagerfeuer bei Getränkeresten.


Warta nicht gesehen

Die Warta sahen wir nicht, aber trotzdem war die Fahrt ein Erlebnis besonderer Art. Außer den schönen Eindrücken, die bald die Erinnerung an die Anstrengungen verdrängten, wird sicher bei allen Beteiligten eines haften bleiben: mit einer richtigen Truppe, wo jeder jedem hilft, macht sogar eine äußerst schwierige Tour Spaß.

Besonderer Dank gilt unserem Fahrtenleiter Andreas Wundratsch, durch dessen Organisationstalent die schöne deutsch-polnische Fahrt möglich wurde. Er behielt immer die Übersicht und führte damit die Fahrt zu einem geordneten und ich denke erfolgreichen Ende.


Quelle und Korrekturbericht

Dieser Artikel stammt von Alexander Günther, Bernau, und erschien in der Zeitschrift "Rudersport, Organ des Deutschen Ruder-Sport-Verbandes der DDR", 30. Jahrgang Heft 10/1986, S. 10 f. Der Text wurde aus der Zeitschrift übertragen und dabei die neue deutsche Rechtschreibung berücksichtigt und die Schreibweise der Orte dem polnischen Schriftbild angeglichen. Der zuerst genannte Zacisze-See wurde der besseren Findbarkeit halber in "Kopanickie-See" geändert, der von Mała Wieś aus gesehen der erste See der Seenkette ist. Der Lutowskie-See wurde in den korrekten Namen "Lutol-See" geändert. Eine weitere Aktualisierung der Fakten auf heutigen Stand wurde nicht durchgeführt. Neue Fahrtberichte der letzten Jahre werden gerne entgegengenommen!

Vielen Dank an Alexander Günther für seine Genehmigung zur Veröffentlichung im Faltbootwiki.


Siehe auch die Artikel

  • Obra, Gewässerbeschreibung


Bild-Rot-C.png Dieser Artikel unterliegt dem ausschließlichen Urheberrecht des angegebenen Autors.

Wenn es Interesse an seiner Nutzung gibt, wenden Sie sich bitte an den Autor.
Bei Kontaktschwierigkeiten und Fragen kann man sich an den SysOp GeorgS wenden.

Wir bedanken uns beim Autor für die Nutzungsgenehmigung.